Kaum eines ihrer Werke ist länger als fünf Minuten: Volksliedbearbeitungen und Originalkompositionen, einige in Zyklen gebunden. Jedes ihrer Werke bietet eine Seelenschau von cineastischer Wirkung. Nuancenreich, hingebungsvoll und feinfühlig lenkt sie auf die Sphären zwischen den Zeilen und Linien. Konsequent und kompromisslos forscht und fordert sie heraus, was zur Nachdenklichkeit stimmt. Immer erzählt sie dabei, was den Menschen bewegt. Nie verlässt sie dabei ihren Weg: Sie schafft Anspruchsvolles und doch Machbares fürjene, die mit Leidenschaft singen und offen sind, sich dem Jetzt und Heute zu stellen.
CHORPRAXIS
Sylke Zimpel im Gespräch
Frau Zimpel, was bedeutet es für Sie zu singen?
Ich glaube, wenn ich aus irgendeinem Grund längere Zeit nicht singen kann, werde ich krank. Ich singe eigentlich immer und überall - Singen ist für mich natürlicher Ausdruck meiner Seele. In meiner Kindheit wurde diese Ausdrucksform leider eher mit Sätzen quittiert, wie "Kannst du bitte etwas leiser singen? Merkst du nicht, dass du falsch singst?". Das führte dazu, dass ich immer ängstlicher und seltener sang, meine Stimme immer rudimentärer wurde und ich schließlich einen langen Umweg über Flöte und Klarinette nehmen musste, um gute zehn Jahre später durch das Komponieren und noch später durch das Chorleiten wieder zurück zum Singen zu finden - immerhin. Weitere zehn Jahre später stieß ich dann endlich auf "meine" Lehrerin, die mir half, meine Stimme wieder zu finden: wir arbeiten uns fröhlich vorwärts. Heute beginnt für mich der Tag meistens schon unter der Dusche mit Singen und ich hoffe, es bleibt so.
Und was heißt es für Sie, dem Gesang anderer zuzuhören?
Das heißt für mich, die Seelen anderer wahrzunehmen, die der Sänger und des Dirigenten, des Komponisten natürlich sowie des Dichters, dessen Worte zum Ursprung für die Musik wurden. Das heißt aber auch, über diese Schwingungen an meine eigene heranzukommen. Manchmal genügt ein einziger Akkord und ich bin nicht mehr im Alltag, sondern bei mir selbst, bei dem, was mich und vielleicht andere tiefer drinnen bewegt, berührt. Was fasziniert Sie am Chor, dass Sie sich als Komponistin für diese Gattung entschieden haben? Es sind, glaube ich, genau diese Dinge. Mich beeindruckt immer wieder, wie eine Stimme uns anrühren kann, der Gesang einer einzelnen Stimme, hell oder dunkel, der sich plötzlich vervielfacht zu einem vielstimmigen Singen! Die menschliche Stimme ist etwas Großartiges, sie vermag auf sehr direkte Weise verborgene Seiten in uns zum Schwingen zu bringen. Sie kann ungeheuer zart sein aber auch kraftvoll, strahlend. Das fasziniert mich - und zieht mich zu diesem Genre.
Haben Sie Vorbilder?
Kaum, ich komme ja gewissermaßen von außen, von der Lyrik her, habe zwar noch den Kinderchor von innen kennen gelernt, aber der Vielfalt, der ganzen Breite der Chormusik bin ich erst begegnet, als ich selbst schon für Chor komponierte.
Sie sind auch Chorleiterin und Dozentin. Inwieweit beeinflussen diese Tätigkeiten Ihre Werke?
Proben und Seminare sind mein Praxisfeld. Da sehe ich, was geht und wie es klingt. Da kann ich Methoden erproben, um bestimmte Klänge zu realisieren, da kann ich experimentieren, spielen, entdecken. Und: dort gewinne ich meine Sicherheit, dass das, was ich notiere, klingen kann und machbar ist - meist sogar mit "normalen" Amateuren, so sie experimentierfreudig sind ...
Wie viel Freiheit räumen Sie Ihren Interpreten ein?
Schwierige Frage. Wenn ein Chorleiter die Intention eines Stückes erkannt hat, gestehe ich gern Freiräume zu. Ein guter Chorleiter wird aus einem Stück ohnehin sein eignes machen. Das ist dann seine Interpretation, die meiner Vorstellung entsprechen kann, aber nicht muss. Und wenn sie es nicht tut, kann es trotzdem passieren, dass ich durch so eine "Fremdaufführung" ganz neue, überraschende Lesarten meiner Stücke entdecke und diese Auffassungen später sogar mit meinem eigenen Chor übernehme. So geschehen z.B. bei "Tumbalalaika". Leider habe ich auch schon erlebt, dass ein Stück entstellt wurde. Das tut weh, vor allem, wenn es in seiner Intention hörbar nicht verstanden wurde: ein Risiko, welches ich als Komponistin natürlich eingehe, wenn ich ein Stück veröffentliche. In solchen Fällen bin ich immer sehr traurig und denke, warum fragt er nicht nach? Es ist doch keine Schande für einen Chorleiter, wenn sich etwas nicht von selbst erhellt. Profitieren würden von so einer Nachfrage neben dem Publikum vor allem die Sänger ...
Nach welchen Gesichtspunkten wählen Sie Ihre Texte aus?
Gültige Kriterien für die Auswahl von Texten zu nennen, ist schier unmöglich, weil ich beim nächsten Text womöglich alles, was ich jetzt postuliere, über den Haufen werfe. Wichtig ist, dass ein Text mir gefällt und Dinge anspricht, die mich bewegen. Da ichTeil eines großen Beziehungsgeflechts bin, sind das oft Dinge, die auch andere bewegen. Aber das allein genügt nicht. Ich für mich brauche darüber hinaus eine bestimmte Art von Sprache in möglichst freien Rhythmen. Auch der Satzbau spielt eine große Rolle und natürlich der Raum zwischen den Worten und Gedanken: wo alles gesagt ist, findet Musik keinen Platz mehr.
Und welche Rolle sielt da die Musik?
Für mich ist Musik ein Mittel, Dinge zum Fließen zu bringen - in mir, in meinen Lidrn, aber auch in meiner Tätigkeit als Chorleiterin. Und dieses "In-Fluss-Bringen" ist eine Form von Sensibilisierung: Sensibilisierung der Sänger für die Worte und Töne, die sie singen, sowie dafür, was diese Worte und Töne mit ihnen zu tun haben, was hinter den Worten steht. Darüber hinaus aber auch Sensibilisierung der Hörerfür Leises, Verdrängtes, Unbewusstes. Von da heraus kann sich eine ungeheure Kraft entwickeln, ein individuelles oder gemeinsames Empfinden, ein Ausatmen, das ein anderes Einatmen ermöglicht - was gibt es mehr?
Sie haben viele jiddische Lieder bearbeitet? Was fasziniert Sie an diesem Genre?
In den jiddischen Liedern vereint sich auf ganz einzigartige Weise das Traurige mit dem Fröhlichen. Oft bedarf es nur kleinster Nuancen oder winziger rhythmischer Veränderungen, um aus einem eben noch tod-sterbens-traurigen Lied plötzlich einen derb-fröhlichen Tanz zu machen - ich spreche hier nicht von den Liedern über Vertreibung oder Holocaust. D.h., die fröhlichen Lieder, die übrigens alle in herzzerreißendem Moll stehen, wissen von der Melancholie, vom süßen Schmerz und umgekehrt:dieabgrundtief traurigen Liebeslieder sind von einer solchen Traurigkeit, dass der lächelnde Genuss des Schmerzes beim Singen unbedingt dazugehört. Und das finde ich einfach herrlich. Wie auch die Melodien und den Humor vieler Lieder sowie diese irrsinnig saftige jiddische Sprache.
Gibt es stilistisch verfügbare Mittel, die Sie nie einsetzen würden?
Ich würde nie "nie" sagen. Aber als singendem Wesen ist mir Sangbarkeit schon sehr wichtig. Und als Chorleiterin weiß ich die Elemente zu schätzen, die eine Stimmgruppe aufleben lassen und zum beseelten Singen animieren ...
Welche Zielgruppe haben Sie vor Augen, wenn Sie komponieren?
Gar keine. Ich mache ein Lied so, wie es aus sich selbst heraus werden will und schaue dann, was entstanden ist, für wen es geeignet sein könnte ... Eine Ausnahme sind vielleicht die Stücke für Kinderchor und natürlich Auftragskompositionen.
Sehen Sie im unmittelbaren Zusammenwirken von Komponist und Chor zur Schaffung neuer Werke die Idealbesetzung?
Es gibt nicht nur eine musikalisch- klangliche Kreativität. Esgibt auch die kreative Lust, aus bestimmten gegebenen Bedingungen heraus etwas für alle Beteiligten Neuartiges, Originelles zu schaffen. Mich hat die Zusammenarbeit mit konkreten Chören immer sehr herausgefordert, oft auf neue Pfade geführt, dadurch bereichert und in jedem Falle weitergebracht. Es ist eine mögliche Variante des Komponierens. Die andere, ganz aus sich selbst heraus zu schreiben, brauche ich aber auch.
Was möchten Sie unbedingt noch komponieren?
Ach, wissen Sie, über ungelegte, zu dem ,"heilige" Eier ist nicht gut Reden. Ich bin offen für Überraschungen.
Das Gespräch führte Christiane Franke |
Zum Klingen bereit
Kompositionen von SYLKE ZIMPEL
Ein Schuss Melancholie auch in der Ausgelassenheit, ein Augenzwinkern auch in der Melancholie lässt Sylke Zimpel durchscheinen, wann immer sie jiddische Lieder in prachtvoll pralle Klänge und beschwingte Rhythmen verwandelt. Den Volksliedweisen hört sie in ihrer Ursprünglichkeit nach und schafft es doch, in fein nuancierten Abweichungen von eingeschliffenen Klängen neue Sichtweisen zu eröffnen, inhaltlicher wie musikalischer Natur. Das erreicht sie auch, weil sie neben den Regeln der Tonsatzkunst eine fantasiebeflügelnde Sicht auf ihre Werke offenbart. Nehmen wir den Liederzyklus "Widewaus" nach Kinderreimen. Da geht ein Männerl übers Land und lässt sein Steckerl fallen. Die aufsteigende Melodie des Männerl übernimmt die Maus fast identisch gespiegelt in abwärts geführter Form, wenn sie das Steckerl aufhebt. Dieses Motiv dominiert den tonangebenden Part bis zum Schluss, fragmentarisch kommentiert von der jeweils beigleitenden Stimme. Eines ist klar: Männerl wie Maus sind gleichberechtigte Partner, deren stimmliche Ebenen (Sopran und Alt) in dem Moment verschwimmen, wenn sie musikalisch in Kommunikation treten, sich annähern und schließlich im fröhlichen Cis- Dur eins werden. Die Handhabe des Kernmotivs schafft ein Empfinden für die räumliche und emotionale Ebene der Geschichte, der zum Teil fragmentarische Einsatz des Reims zum Zwecke eindeutiger Textverständlichkeit bietet ein Abbild zunehmenden Verständnisses und Vertrauens zwischen den Protagonisten.
Gespaltenheit im doppelten Sinne ist das Thema des zweiten Reimes. Da geht es um einen, der die Angst vor dem Hund hat und wiederum nicht. Während die Altstimme Stolz, Stärke und Unerschrockenheit an den Tag legt, um den Bauern zu warnen, übernimmt der Sopran den Part des von Angst gehetzten Mädchens. In Sext und Quartschritten untermauert der Alt seine Drohung, während der Sopran im doppelten Tempo über kleinenTerzen und Sekundschritten dahinjagt. Die Antwort des Bauern kommt prompt, unvermittelt und absolut identisch zum Anfang. Um hier den Rollenwechsel klar herauszukehren, könnte man den Chor teilen. Anweisungen hierzu gibt die Komponistin nicht. Offen lässt sie auch, ob Lied Nr. 3 von der lädierten Maus und Nr. 4 vom lauernden Käterchen zwingend aufeinander folgen müssen. Beide Liedchen können für sich existieren oder in einem Zug erklingen. Dafür gibt es dann einen Verbindungston, der ein spannendes Szenario eröffnet: hier das leidende Mäuschen, dort das ewig knurrende Käterchen, das sich das Väterchen schließlich zur Brust nimmt. Richtig traurig wird es im Reim Nr. 5, wenn die Kinder sich stimmlich bis stimmlos in streng homophon geführter Zweistimmigkeit in die Gemütsbewegungen des kranken Frosches hineinseufzen. Nr. 6 ist ein fast reiner Sprechgesang, ein quirlig, witzig, rasantes Gegackere über ungelegte Eier mit einem Schluss, der den Atem stocken 1ässt. Zu je dem Lied gibt die Komponistin Interpretationshilfen und verweist auch auf die Möglichkeit, zur Stütze der Stimme oder eigenständig Instrumente mit einzubeziehen.
"Und oben schwimmt die Sonne davon" ist ein durchkomponierter zwölfteiliger Liederzyklus auf Texten der gleichnamigen Gedichtsammlung von Elisabeth Borchers. Sylke Zimpel komponierte dieses Werk im Auftrag der Jugend&KunstSchule Dresden. Gedacht für gleiche Stimmen nutzt sie hier die weite Palette des A-cappella-Gesangs: angefangen vom Nachempfinden gregorianischer Weisen über tonartengebundene motettenartige Sätze und in freitonalem Raum fortgeführte Motive bis hin zu Sprechgesang und Geräuschbildung. In jeder dieser stilistischen Regionen führt sie die Stimmen so behutsam, dass alles im anspruchsvollen, doch machbaren Bereich bleibt und - im Übrigen einmal überwunden - schnell vergessen ist zugunsten einer überaus vitalen, eindringlichen undvielfarbigen Schilderung des Jahresablaufes. Jeder Monat erhält sein individuelles Gesicht. Klima, Festen, Riten verleiht SylkeZimple musikalischen Ausdruck und formt aus dem Zusammenwirken unterschiedlichster Stimmungen ein für den jeweiligen Monat so typisches Bild. Einzelne Motive, eingesetzt gleich einer "idée fix", erinnern in einem Gemisch aus Zuversicht und Melancholie an den unaufhaltsamen Fortlauf von Raum und Zeit. Dieser Zyklus eignet sich auch ideal zu einer szenischen Darstellung.
"Am Wegrand" nach einem Textvon Calvin 0.John ist eine unglaublich intensive Steinmeditation in Klängen. Obwohl genau festgelegt, gleicht das Unisono-Solo der Männerstimmen einer frei empfundenen, ewigen Melodie. Und so soll es soll es auch intoniert werden, voranbewegt durch ein "liberamente", durchsetzt von Triolen, um Härte von vorneherein auszuschließen, gebettet auf einen auf- und abwogenden Unisono-Gesang der Frauen auf dem Vokal "a" in taktungebundener, schwebender Leichtigkeit.
Esliest sich komplizierter als es ist: das Experiment organisierten Zufalls in Korrespondenz oder auch irn aufreibenden Widerspruch zur ganz traditionellen Choralbearbeitung eines Rudolf Mauersberger. Dies realisierte Sylke Zimpel im auskomponierten "Wie soll ich dich empfangen" nach einem Text von Paul Gerhardt und unter Verwendung der Melodie von Johann Crüger mit lang gedehnten Klangfeldern und baute den Solopart zudem zu einem Kanon aus, wobei die Kanonstimmen aufgefordert sind, sich nach dem Prinzip des Zufalls in den Kanon zunächst "einzufädeln" und dann wieder "auszufädeln": Die Ordnung des Ablaufs des gesamten Werkes wird lediglich durch die Strophenfolge garantiert. Ebenso der Augenblick, zu welchem Mauersbergers Choralbearbeitung erklingt. Am Ende vereinigen sich alle Stimmen noch einmal in Mauersbergers Satz, aber nun mit anderen Worten, die formulieren, was zuvor nur die Musik kündete: Schmerz, Pein und Erlösung.
Freudiges Erzittern aus der Stille heraus bricht sich Bahn, wenn ein vierstimmiger Chor a cappella "Ich bin ein Baum" intoniert. ,"So leise wie möglich" beginnen die Sängerinnen und Sänger zunächst gleichzeitig, bewegen sich aber individuell fort, um sich immer wieder an markanten Punkten, den Fermaten, zu sammeln und dann neuerlich im ureigenen Tempo dem nächsten Punkt entgegenstreben. Der zweite Teil dieser dreiteiligen Komposition übernimmt den Chorsatz des 1. Teiles wortwörtlich. Darüber entfaltet sich ein ruhiges Sopransolo, das die Melodie des dritten Teiles einführt. Hier ist nun Doppelchörigkeit angesagt, um eine Echowirkung zu erzielen - zunächst verhalten angestimmt, am Ende kraftvoll und volltönend. "Ich bin ein Baum" ist der Schlusssatz der 10 Sätze umfassenden Sammlung "Vogelwort" nach Texten von Rose Ausländer.
Christiane Franke |