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Texte
nach Worten der chilenischen Dichterin Gabriela Mistral (Nachdichtungen von A. Theile / G. Pape)
Scham
Wenn du mich anblickst, werd´ ich schön,
schön wie das Riedgras auf dem Tau.
Wenn ich zum Fluss hinuntersteige,
erkennt das Schilf mein sel´ges Angesicht nicht mehr.
Ich schäme mich des tristen Munds,
der Stimme, der zerriss´nen, meiner rauhen Knie.
Jetzt, da du mich, herbeigeeilt, betrachtest,
fand ich mich arm, fühlt´ ich mich bloß.
Die Nacht ist da. Auf´s Riedgras fällt der Tau.
Senk lange deinen Blick auf mich.
Umhüll michzärtlich durch dein Wort.
Schon morgen wird, wenn sie zum Fluss hinuntersteigt,
die du geküsst, von Schönheit strahlen.
Er hat mich geküsst
Und schon bin ich eine andere: eine andere durch das Klopfen,
das meiner Adern Pulsschlag verdoppelt.
Eine andere durch den Atem, der durch meinen Atem fühlbar ist.
Mein Leib ist schon edel wie mein Herz...
Und selbst in meinem Hauch finde ich einen berückenden Duft von
Blumen:
alles durch ihn, der sanft in meinem Schoße ruht wie der Tau auf
den Gräsern.
Wie wird es sein?
Ich habe lange die Blüten der Rose geschaut und sie betastet:
diese Sanftheit möchte ich für seine Wangen.
Und ich habe im Brombeerdickicht gespielt, denn so hätte ich gern
seine Haare:
dunkel und gekraust.
Und ich möchte, dass es mit der Zartheit blickt, die er in seinem
Blick hat:
denn in dem, was da kommt, will ich jenen lieben, der mich küsste.
Empfindsam
Schon spiel ich nicht mehr auf den Wiesen und fürchte mich, zu
schaukeln mit den Mädchen.
Ein einfacher Gesang, der mit dem Wind kommt, verwirrt mich und tränkt
mich in Schmerz.
Mein ganzes Herz ist ehrfürchtig, seit es das Geheimnis trägt.
Ich sage über es, das da schlummert in mir, sag' Stund um
Stunde ewige Strophen.
Ich webe in diesem Schweigen, in dieser Stille, ich webe einen wundersamen
Körper.
Ich lege Rosen auf meinen Leib. Ich gleiche dem fruchtbeladenen Zweig.
Weisheit
Nun weiß ich, wozu ich zwanzig Sommer das Licht auf mir empfangen
habe
und die Blumen schneiden durfte.
Warum dieses wunderbare Geschenk der warmen Sonne und des frischen Grases?
Gleich dem blauen Büschel der Traube durchfuhr mich das Licht
um der Süßigkeit willen, die ich hergeben würde.
Denn: wer wäre ärmer als ich, wenn meine Brust sich nicht
befeuchtete.
Mutter, erzähl mir
Mutter, erzähl mir alles, was du durch deine alten Schmerzen weißt.
Erzähl mir wie es geboren wird, sein Körper kommt, verflochten
mit mir;
ob es allein meine Brust suchen wird, oder ob ich sie ihm anbieten muss.
Lehr mich die neuen Liebkosungen, zartere als die des Gatten.
Lehr mich das Wiegenlied, mit dem du mich, Mutter, wiegtest.
Möge es schon geboren werden und mein Schrei im Morgen emporsteigen.
Möge die Erde mich anschauen und mit dem Kind im Arm mich segnen.
Wer bin ich - eine die liebte und deren Liebe die Ewigkeit forderte.
Angst liegt auf meinen Schläfen. Doch es ist nicht der Tod, es
ist das Leben!
Ich nenn dich jetzt: Unendliche Süße, Herr, auf dass du es
sanft lösest.
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